Von Lastenheften, Pflichtenheften und was das gerade bei agilen Projekten mit Verträgen zu tun hat

Die Headline kommt irgendwie bekannt vor? Das ist nicht verwunderlich. Schließlich schrieb Michael Ulm auf t3n just einen Artikel mit dem Titel Was? Pflichtenheft und Lastenheft sind nicht dasselbe?. In dem Beitrag wird sehr schön dargelegt, was die Unterschiede zwischen den Heftchen und wofür die eigentlich gut sind. In tl;dr Manier könnte man sagen: Lasten- und Pflichtenheft bilden die Grundlage für eine Zusammenarbeit von Auftraggeber und Auftragnehmer. Das Lastenheft skizziert die Wünsche des Auftraggebers. Auf Grundlage dessen entwirft der Auftragnehmer das Pflichtenheft, was wiederum die die konkretisierte und auch hinsichtlich der zu erwartenden Kosten (!) belastbare Skizze des Auftragnehmers darstellt. Zeichnet der Auftraggeber das Pflichtenheft als (Teil des) Angebots des Auftragnehmers ab, ist allen klar, was wann zu welchen Konditionen wie zu erfolgen hat. Und die Welt ist schön.

Tja. In der Theorie. In der Praxis sieht das, gerne mit dem Schlagwort „agile Projektstrukturen“ versehen, (oft) anders aus. Nämlich so, dass die Parteien am Ende fürchterlich streiten, was denn nun eigentlich gewollt war und wie wer genau nun was bis wann und zu welchem Preis eigentlich umzusetzen gehabt hätte. Im Worst-Case-Szenario landet das Ganze als handfester Rechtsstreit vor Gericht.

Der geneigte Leser ahnt so langsam, warum Lasten- und Pflichtenhefte etwas mit Verträgen zu haben und wie ich auf die Idee zu diesem Artikel kam. Aber beginnen wir doch einmal von vorn:

Wie die Praxis aussieht, das erklären uns ganz plastisch zwei Kommentare, die unter dem oben genannten Artikel zu finden sind:

Sebs: „Sind wir im Jahr 1998? Da gehört der Artikel nämlich irgendwie hin.
In der immer steigenden Anzahl an wirklich agilen Projekten, wo auch immer neue Anforderungen oder Änderungen auftreten können und dies aber auch akzeptiert wird, ist das Prinzip des „totalen“ Lasten-/Pflichtenheft total daneben.“

Christian Händle: „Dieser Artikel gehört zwar auch in das Jahr 1998 aber gerade heute ist es wichtig, sich an dieses Prinzip zu erinnern. Was nämlich das ganze agile Projektmanagement momentan sehr fördert, ist die Einstellung, ach wir fangen doch einfach mal an. Und am Ende stellt sich heraus, dass ein bisschen Plan zu haben doch gar nicht schlecht gewesen wäre. [… ]Das abgeschwächte Lastenheft ist eine Praxis, die mir persönlich immer wieder mehr sauer aufstößt und vielen Agenturen immer wieder den so gehassten Rechtsstreit beschert.“

Jip, da wären wir mittendrin im Problem. Tatsächlich ist es so, dass Projektstrukturen immer agiler werden. Und das gilt nicht nur für klassische IT-Entwickler, sondern auch für die Konzeption und Umsetzung von sonstigen Online-Kampagnen und -Projekten. Sprich, am Anfang steht oft nur wenig mehr als eine grobe Idee. Teil der Arbeit des Auftragnehmers ist es, diese Idee in ein Projekt (=Software, Applikation, Kampagne, whatever, wir bleiben hier der Einfachheit halber mal bei dem Begriff Projekt) umzusetzen und diesem Leben einzuhauchen. Es findet sich, die Projektstruktur ist eben „agil“.

Dennoch wollen sich Auftraggeber und Auftragnehmer irgendwann an irgendwas festhalten können. Der Auftraggeber will schon gerne wissen, mit welchen Kosten er wohl zu rechnen hat, der Auftragnehmer will wissen, was ihm an Aufwand und Entlohnung ins Haus steht.  Sonst gibt es irgendwann eben genau: Streit.

Was also tun?

Naja, was soll ich sagen. Ich bin Jurist. Ich will auch von was leben. Ich sage, machen Sie einen vernünftigen Vertrag! Okay, im Ernst: Machen Sie einen vernünftigen Vertrag. Und zwar einen, wenn Sie es so nennen wollen, agilen Vertrag.

Wenn Sie aus dem Projektbusiness kommen, dann werden Sie an dieser Stelle einwenden „Ja, Moment. Aber ich muss doch als Auftraggeber erst ein Lastenheft entwickeln, dann kommt das Pflichtenheft und dann wird erst ggf. der Auftrag freigegeben?! Worauf soll denn dann der Vertrag basieren und was soll da drin stehen?“

Kein unberechtigter Einwand. Aber einer der genau über den „agilen Vertrag“ berücksichtigt wird.

Die Schönheit agiler Projekte ohne Lastenheft, ohne Pflichtenheft und ohne Vertrag

Mal angenommen, Sie nehmen es mit dem Lasten- und Pflichtenheft nicht so genau. Was passiert? Das Projekt läuft in der Regel früher oder später aus dem Ruder, denn es stellt sich heraus, dass die Parteien bei aller Anfangsenergie für das gemeinsame Projekt doch ganz andere Vorstellungen davon hatten, wohin den die Reise gehen sollte (Der Jurist mag hier von einem Dissenz sprechen.).  Aus Sicht des Auftraggebers ist die bisherige Entwicklung Murks und das Projekt gerade einmal zu 30% erfüllt. Aus Sicht des Auftragnehmers ist alles gemacht, wie in diesem strategischen Eingangsmeeting, in dem die Luft vor Euphorie pochte, besprochen und das Projekt zu 75% abgeschlossen.

Und nun? Wer zahlt hier jetzt für was? Ist was geleistet worden, was bezahlt werden muss? Oder liegt eine Schlechtleistung vor, für die allenfalls ein geminderter Zahlungsanspruch besteht? Liegt eine Projektverzögerung vor? Und wer hat die zu vertreten? Ja. Nein. Vielleicht so. Aber auch anders.

Gucken wir mal in den Vertrag. Ach nein. Den haben Sie ja auch nicht.

Gut. Ich übertreibe. Sie haben natürlich irgendwo Emails und Projektvorgaben und Kostenvoranschläge und solche Sachen. Bei Projekten, deren Wert maßgeblich für die weitere Existenz des Auftragnehmers ist (ergo, das können 5.000, 50.000 oder 500.000 oder 5.000.000 Millionen sein), bringt es jedoch wenig Spaß, seine eigene (Rechts-)Position aus solchen Schnipseln zusammen zu friggeln. Es stehen unschöne (und unnötige) Nachverhandlungen an.

Der agile Vertrag

Wenn es richtig, richtig gut läuft, dann können Sie als Agentur/Auftragnehmer schon einen Vertrag (bzw. Allgemeine Geschäftsbedingungen) aus der Tasche zaubern, obwohl Sie gerade erst mit dem Auftraggeber eruieren, was denn der Wunsch des Auftraggebers sein und was denn im Lastenheft stehen könnte.

Das Einzige, worauf Sie sich vor Unterzeichnung des Vertrages ggf. bereits mit dem Auftraggeber einigen müssen, ist ob die Erstellung des Pflichtenheftes, also die Konzeption des Projekts und damit die konkrete Angebotserstellung, bereits als bezahlter Aufwand gelten soll und wenn ja, welcher Preis hierfür aufgerufen wird. Dies ist dringend zu empfehlen, da der Aufwand erheblich sein kann und eben nicht sicher ist, ob das Pflichtenheft, das in der Praxis zumeist zugleich das konkrete Angebot für die Umsetzung darstellt, auch vom Auftraggeber angenommen wird. Zu dem kann der Auftraggeber mit eben diesem Pflichtenheft/Angebot zur Konkurrenz gehen (ja, das kann zehnmal qua Vertrag verboten werden, wird doch gemacht und herausfinden wird es der Auftragnehmer nie) und die Konkurrenz macht dann auf der Grundlage Ihrer Arbeit ebenfalls ein Angebot. Wenn das passiert, will man doch wenigstens den in das Pflichtenheft/Angebot investierten Aufwand entlohnt sehen. (Mehr zu dieser Problematik finden Sie auch im Artikel „Agenturvertrag? Allgemeine Geschäftsbedingungen? – Muss das sein?!? Teil 1„)

Doch nun zurück zum Vertrag. Die Inhalte eines solchen agilen Vertrages sollten – grob skizziert – aussehen wie folgt:

1. Projektbeschreibung
Kurze, sehr grobe Beschreibung des gemeinsamen Vorhabens

2. Projektphasen

a. Erstellung Lastenheft

  • Verpflichtung des Auftragsgebers ein Lastenheft zu erstellen,
  • Vorgaben mit Mindestanforderungen für das Lastenheft,
  • Feststellung, das übereinstimmend als endgültige Version erklärtes Lastenheft Teil des Vertrages wird.

b. Erstellung Pflichtenheft

  • Verpflichtung des Auftragnehmers auf Grundlage des Lastenheft ein Pflichtenheft zu erstellen,
  • Vorgaben mit Mindestanforderungen für das Pflichtenheft,
  • Verpflichtung Pflichtenheft mit entsprechender Kalkulation zu versehen und/oder korrespondierendes Angebot vorzuhalten,
  • Zu empfehlen: Qualifizierung der Erstellung des Pflichtenheftes bereits als erste Projektstufe (konkrete Konzeption), Verweis auf die für die Erstellung des Pflichtenheftes getroffene Vereinbarung hinsichtlich der Vergütung,
  • Verpflichtung des Auftraggebers Pflichtenheft zu prüfen und „Abnahme“ sowie Annahme oder die Ablehnung des Angebots zu erklären,
  • Feststellung, das übereinstimmend als endgültige Version erklärtes („abgenommenes“ Pflichtenheft Teil des Vertrages wird.

aa. Bei Ablehnung des Pflichtenhefts:

  • ggf. Verpflichtung des Auftraggebers zur Zahlung der vereinbarten Vergütung,
  • Im Übrigen: Die Parteien sind auseinander.

bb. Bei Annahme des Pflichtenheftes:

    • abgenommenes Pflichtenheft wird Bestandteil des Vertrages,
    • Realisierungsphase beginnt.

c. Realisierungsphase

    • Umsetzung des Projekts gemäß Pflichtenhefts,
    • Klauseln zur agilen Projektstruktur: Klarstellung, dass Änderungen und Abweichungen vom Pflichtenheft möglich sind, wenn beide Parteien zustimmen. Regelung über Art der Zustimmung (bspw. Übersendung KVA inkl. Zeithorizont für gewünschte Auftragsänderungen, Zustimmung des Auftraggebers, realistischerweise sollte Textform, also Email, ausreichen), Feststellung, dass diese verbindlichen Emails Bestandteil des Vertrages werden.
    • Abnahmen (Milestones) gemäß Pflichtenheft
    • Regelungen zur Abnahme.

d. Weiteres

Natürlich benötigt der Vertrag darüber hinaus noch weitere Regelungen. Zum Beispiel dazu, wer gegebenenfalls Verzögerungen zu vertreten hat, also eine Reglung bezüglich der Mitwirkungspflichten, Klauseln zur Rechteeinräumung oder Regelungen zur Haftung und Gewährleistungen.

Da ich all dies (und mehr) jedoch schon recht ausführlich in „Agenturvertrag? Allgemeine Geschäftsbedingungen? – Muss das sein?!? Teil 1“ und Agenturvertrag? Allgemeine Geschäftsbedingungen? – Muss das sein?!? (Teil 2) beschrieben habe, möchte an dieser Stelle einfach darauf verweisen.

Wozu jetzt der Vertrag? Damit wird doch alles noch komplizierter?

Wenn es um Verträge geht, ist sehr oft der Einwand zu hören „Ja, aber wenn ich gleich zu Beginn mit einem Vertrag ankomme, dann ist das doch total abschreckend!“. Diese Angst ist verständlich, sollte aber komplett unbegründet sein. Denn über das, was in einem solchen Vertrag geregelt wird, sollten sich die Parteien ohnehin dringend Gedanken machen. Denn zu einzelnen Punkten, die an sich in einem Vertrag geregelt würden, wird es in der Regel früher oder später ohnehin Gesprächsbedarf geben.

Wo es enden kann, wenn man sich diese Gedanken nicht macht, nun, das habe ich oben wohl zu Genüge aufgezeigt. Euphorie und Handshake ist super. Aber es ist Business. Und am Ende wird im Zweifel mit ganz harten Bandagen gekämpft. Ist jedoch allen Beteiligten klar, was die Leitplanken des gemeinsamen Arbeitsverhältnisses sind, ist das Risiko eines späteren Streit ausgeschlossen, jedenfalls stark minimiert. Oder was meinen Sie, warum Firmen ab einer gewissen Größe immer Vertragsjuristen (intern oder extern) beschäftigen? Sie tun das in ihrem eigenen Interesse, zur eigenen, bestmöglichen Absicherung.

Doch ich schweife ab, zurück zu dem konkreten Fall des Vertrages zu einem agilen Projekt: In einem solchen Fall sind beide Parteien durch die Bahnen, die der Vertrag vorgibt, gezwungen, die einzelnen Schritte abzuarbeiten und sich entsprechende Gedanken zu machen. Wenn der Auftraggeber z.B. weiß, dass Abweichungen von den in dem Pflichtenheft gemachten Angaben zwar möglich, aber in jedem Fall mit weiterem Aufwand auf Seiten des Auftragnehmers und damit auch nach dem Vertrag mit weiteren Kosten verbunden sind, wird er sich sowohl mit seinem Lastenheft als auch dem Pflichtenheft gründlich auseinandersetzen. Und da der Auftragnehmer qua Vertrag zu bestimmten, konkretisierenden Ausführungen im Pflichtenheft verpflichtet ist, sollte es zu der folgenden Situation  nicht kommen: Der Auftraggeber erstellt ein Lastenheft, in dem „blau“ steht. Und der Auftragnehmer erstellt ein Pflichtenheft in dem „blau, hübsch“ steht. Sie lachen gerade? Nun ja, sinngemäß ist das alles schon passiert.

Der aufmerksame Leser hat allerdings gemerkt, dass soeben geschrieben stand „sollte es zu der folgenden Situation nicht kommen“. Es sollte nicht zu der Situation kommen. Aber ein wenig Selbstdisziplin müssen Sie auch mit dem besten Vertrag mitbringen. Denn wenn es zu Auftragsänderungen nach Abnahme des Pflichtenheftes kommt, dann müssen diese Auftragsänderungen natürlich von Ihnen sauber kommuniziert, abgewickelt und dokumentiert werden.

Fazit

Ein guter Vertrag gibt jedoch einem Projekt Struktur und schafft Sicherheit und Vertrauen auf beiden Seiten. Vor allem schafft ein solcher Vertrag Raum, um sich auf das zu konzentrieren, was zählt: Das Projekt-Geschäft.

Last but not least

Sollten Ihnen die vorstehenden Situationen bekannt vorkommen und sollten Sie nun darüber nachdenken, vielleicht doch Vertragsstrukturen bei Ihnen vorzuhalten, dann fragen Sie mich gerne ganz unverbindlich. Aber bitten fragen Sie mich nicht nach einem Muster, dass ich Ihnen mal eben emailen kann. Das gibt es nicht. Und das wird es nicht geben. Denn so ein Vertrag ist dann im Einzelnen doch wieder so individuell wie Ihr konkretes Business.

In diesem Sinne,

auf Projektgeschäfte ohne Streit.

tl;dr: Agile Projekte sind eine tolle Sache. Agile Projekte, die aus dem Ruder laufen, weil keiner weiß, was wer von wem eigentlich will, sind die Pest. Ein Vertrag, der die speziellen Eigenheiten von agilen Projekten berücksichtigt, schafft Strukturen, Sicherheit und Vertrauen, damit Sie sich mit Ihrem Geschäftspartner auf eben das Geschäft konzentrieren können.