Archiv für den Monat: März 2012

Nachbericht zum LawCamp 2012 – dem Nicht-BarCamp für Juristen

Nachdem hier zuletzt schwere Brocken wie #ACTA und „Was soll eigentlich dieses Urheberrecht“ zu verdauen waren, starten wir heute nach dreiwöchiger Abstinenz (Wo ist denn die Zeit geblieben?!?!) mit etwas leichterer Kost: Dem (IT) LawCamp 2012. Dieses „BarCamp für Juristen“ fand am 17. März in Frankfurt in den Räumen der Großkanzlei Bird & Bird LLP statt. Als weitere Sponsoren traten Lexmarx sowie Schollmeyer & Steidl  auf.

Im Stile von Korrektoren juristischer Arbeiten müsste ich wie folgt beginnen: „Die Veranstaltung zeigte Licht, aber auch viel Schatten.“ Warum? Nicht ohne Grund versteckt sich im Titel das „Nicht-BarCamp für Juristen“. Denn mit einem BarCamp hatte das LawCamp meines Erachtens einfach nicht so viel zu tun. (Wer ausschließlich die Beurteilung zum LawCamp lesen will, der überspringt einfach die Punkte 1. Das Barcamp an sich und 2. Die Benchmarks und springt sogleich zu 3. Das LawCamp selbst oder liest einfach nur 4. Fazit)

1. Das BarCamp an sich

Ein BarCamp ist eine Nicht-Konferenz. Es gibt keine Agenda. Nur viele Menschen, die sich für einen Themenkomplex interessieren und ihr Wissen teilen möchten, ein Orga-Team sowie einen oder mehrere Sponsoren. Los geht es eigentlich schon mit der Anmeldung. Irgendwie und irgendwann wird der Zeitpunkt der Anmeldung bekanntgegeben. Zu genannter Zeit sitzt der potentielle Teilnehmer betend vorm internet-fähigen Gadget und hofft, dass die Internetverbindung stehen und die Server nicht vor Überlast streiken mögen, respektive bitte erst zusammenbrechen, wenn der eigene Platz gesichert ist. Der eigentliche Startschuss fällt dann am Abend vor dem BarCamp und zwar mit irgendeiner Art von Warm-Up-Meet-&-Greet, bei der sich die Teilnehmer – eben – kennen lernen können. Legere Kleidung und das „Du“ sind die absolute Regel. Am nächsten Morgen wird zum Frühstück geladen – und wieder können sich die Teilnehmer austauschen. Sind eben doch das Netzwerken und das Teilen von Wissen die entscheidenden Aspekte bei einem BarCamp. Daraufhin legen die Teilnehmer dieser Nicht-Konferenzen die Inhalte des Tages selbst fest, in dem beim morgendlichen Assembling bei frischem Kaffee sogenannte „Sessions“ von einigen Teilnehmern vorgeschlagen werden und die jeweils anderen darüber abstimmen, ob sie Interesse haben oder eben nicht. Flugs erstellt die Orga einen Session-Plan und nun ist es an jedem selbst, sich zwischen den jeweils 2 bis 5 zeitgleich stattfindenden Sessions die vermeintlich „Besten“ herauszufischen. Es heißt übrigens Session (Sitzung) und nicht Vortrag, da es auf einem BarCamp nicht darum geht, sich wie bei einer Tagung 45 Minuten entertainen zu lassen, sondern ein Thema aktiv mitzugestalten. Auch und gerade als „Teilnehmer“. Das ist übrigens anstrengend. Und so finden sich immer ein paar Leute, die ein Panel ausfallen lassen, gemeinsam gesponserten Kaffee nebst Snacks vertilgen und, ach, da ist es wieder, Netzwerken. Am Ende fallen dann ein paar offizielle Worte der Organisatoren und hipp-hipp, auf geht es in die letzte Runde zum, schon wieder, Netzwerken…gerne mit einem auflockernden Bier oder Wein in der Hand.

Auch wenn das nun flockig geschrieben ist, BarCamps sind meines Erachtens exzellente Veranstaltungsformate, bei denen extrem gute Inhalte geboten werden und – vermutlich aufgrund der gelösten Atmosphäre – sehr viele interessante Menschen auf einem Haufen versammelt sind, die sich auch noch alle Kennenlernen und Vernetzen wollen.

2. Die Benchmarks

Vergleichsmomente gibt es immer.  Das LawCamp muss sich von mir mit dem Hamburger BarCamp (sponsered by Otto, Bertelsmann u.a.) und dem HR BarCamp (sponsered by softgarden, CYQUEST u.a.) vergleichen lassen. Letzteres kürte ich ohnehin schon im Februar zur wahrscheinlich besten Veranstaltung des Jahres 2012 und stehe mit dieser Meinung nicht ganz alleine dar, wie hierhierhier und hier nachzulesen ist! Zugegeben, andere Veranstaltungen haben es dann nicht mehr leicht.

3. Das LawCamp selbst

Der Ablauf

Im Vorwege suchte ich auf der Website des LawCamps vergeblich nach einem Hinweis für das vorabendliche Meet & Greet. Verwundert stellte ich fest, es gibt keine. Bzw. es stellte sich hinterher heraus, dass es schon eine gab. Bloß handelte es sich um eine Veranstaltung ausschließlich für die teilnehmenden Mandanten von Bird & Bird. Okay. Kann man so machen.

Frühstück? Nope. Auch das nicht. Muss ja auch nicht sein. Aber dass man als Gastgeber eines BarCamps auftritt und die Teilnehmer ihren Kaffee selber zahlen lässt?! Das fand ich, gerade auch angesichts der Sponsoren, nun ja, merkwürdig. Aber auch das kann man so machen.

Dann gab es zwar die Möglichkeit selbst Vorträge einzureichen, jedoch standen 12 (in Worten: zwölf) Speaker bereits vorher fest. Von diesen feststehenden Speakern abgesehen, die jedenfalls zu einem Teil aus ehemaligen Bird & Bird Anwälten bzw. augenscheinlich aus Mandanten bestanden, wurden 5 Sessions von aktiven Bird & Bird Anwälten gehalten. Dies bedeutet, dass gerade einmal 10 von 18 Sessions in originärer BarCamp Kultur von irgendwelchen Teilnehmern (und nicht den Sponsoren!) vorgestellt und von der Crowd frei gewählt wurden. Ja, auch das kann man so machen.

In den Sessions reagierten die Vortragenden auf Wortbeiträge der Zuhörer, mhm, sagen wir mal, eher irritiert. Gerne fiel der Satz „Äh, das können wir doch hinterher noch diskutieren.“. Sprich – aktive Teilnahme war unerwünscht. Zu sehr ist anscheinend das „Vortragskonzept“ verinnerlicht. Keine Frage, auch das kann man so machen.

Am Ende gab es ein „Wrap-Up“. Das war jedoch kein allgemeines Networking-Meet-Up  mit zwei warmen Schlussworten der Organisatoren. Nein. Da wurden alle Core-Points aller 28 Sessions noch einmal zusammengefasst. Jaaa. Das muss der Jurist an sich wohl. Noch mal zusammenfassen. Gewundert hat es mich jedenfalls nicht, dass ein Großteil der Teilnehmer an dieser Stelle weg war, bzw. sich schleunigst auf den Weg machte – denn ein gemütliches Ausklingen lassen des Tages war ohnehin nicht vorgesehen. Naja, auch das kann man eben so machen.

Als kleines Highlight kann man das Mittagessen beschreiben. Die Häppchen waren exzellent. Ein bisschen Smalltalk und vielleicht gar Networking (?!?) wurde hier gar betrieben. Doch, oh weh. Das mit dem Kaffee, das war dann schon wieder schwierig. Das sollte man eben nicht so machen.

Die Atmosphäre

Ich würde die Atmosphäre mit „gewollt-locker-aber-doch-juristensteif“ bezeichnen. 95% der Teilnehmer erschienen im Anzug. Und dann hieß es „Aber kein Krawattenzwang!“ – das sollte wohl witzig sein. Lustige Aufforderungen beim morgendlichen Assembling wie „Und jetzt tritt jeder Zweite einen Schritt vor und einen nach Links und unterhält sich mal mit der Person, die dann dort steht. Sie sollen ja auch Leute kennenlernen, har, har“ unterstrichen dies ebenso wie die folgenden Begebenheit: Ein Mann stellte sich mir vor und sagte „Günther, Guten Morgen“. Antwort: „Moin, ich bin Nina.“ Darauf traf mich dann eine sehr akzentuierte Entgegnung mit entsprechendem Blick, nämlich „Günther ist mein Nachname!“. Ratter, ratter. Ach ja. Ich war augenscheinlich gar nicht bei einem BarCamp und auch nicht in Hamburg. Ich war auf einer Juristenkonferenz und zwar in Frankfurt. Also, schnell den Schalter für Standesgepflogenheiten anknipsen: „Entschuldigen Sie bitte Herr Kollege. Meine Name ist Rechtsanwältin Nina Diercks, ich bin sehr erfreut Sie kennen zu lernen“. Ach, ach, BarCamp ja, aber bitte doch nicht so viel, dass man auf die Idee kommen könne, etwa zu duzen… und dass ich bei dem Namen nicht gleich erkannte, dass es sich nur um den Nachnamen handeln könne… (Anm. d. Red.: Der Name der Person wurde von der Redaktion geändert).

Die Inhalte

Die Sessions, an denen ich teilnahm, waren thematisch durchaus gelungen und boten Mehrwert: 1. Die Doppel-Veranstaltung zur geplanten EU-Datenschutz-Grundverordnung mit Lars Dietze vom eco-Verband und Bettina Robrecht von der SCHUFA Holding AG, die Session „Datensammler im Web – Was bedeutet „Do not Track“ für Werbung und Widgets“ von Ninja Marnau, ULD Schleswig-Holstein sowie schließlich die Diskussionsrunde vom Kollegen Krieg, Legal Counsel Lumesse AG und Hrsg vom Blog kriegs-recht.de mit der Fragestellung „Juristen und Social Media – Lohnt sich der Einsatz“ (Anm. der Red. Quatsch! Alles Quatsch! Das Internet ist bald tot und Social Media nur ein Hype! Oder so…).

Der komplette Session-Plan kann übrigens hier eingesehen werden.

Deutlich wurde für mich aber in den Sessions, dass die meisten der dort Anwesenden noch weit weg von Social Media Themen und dem dazugehörigen Business waren. So bekam ich auf Nachfragen  zur EU-Datenschutz-Grundverordnung gerne Beispiele aus der Versicherungs- oder Bankbranche genannt – was doch recht wenig zu so manchem Problem meiner Mandanten passt und insoweit meine Fragen auch eher nicht beantworten konnte. Genauso war die Ungläubigkeit nahezu mit Händen zu greifen, als der Kollege @thsch in der Session zu Social Media berichtete, wie arbeitsintensiv so ein Blog im Schnitt in der Woche ist…

Das Licht

Neben dem schon erwähnten Mittagessen und grundsätzlich auch den Inhalten gab es durchaus noch weitere positiv Aspekte am LawCamp 2012. Das selbst organisierte Warm-Up am Abend davor mit zwei Kollegen, von denen ich hörte, dass es bei Ihnen durchaus länger ging (weswegen Ihre Identitäten hier dringend geschützt werden müssen) ;-). Das reale Kennenlernen von zwei weiteren Vertreter der Social Media Suppe, nämlich Adrian Schneider vom telemedicus und @mediengerecht aka Laurent Meister. Ferner vermisste ich zwar den @elawprof aka Prof. Heckmann, jedoch hatte der seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter Michael Marc Maisch vorbeigeschickt (die Xing-Anfrage kommt!). Und wen sahen meine entzündeten Augen mit Freude noch? Den Kollegen Michael P. Heng, in dessen damaliger Bürogemeinschaft ich  vor knapp zehn Jahren mein Vertiefungspraktikum absolvierte… Unglaublich. Wir arbeiten keine zwei Kilometer auseinander und müssen beide nach Frankfurt fahren, um uns wiederzusehen (dem Kaffee-Termin entfliehst Du nicht!). Und schließlich Tamara Gdwowczok, die dem e-commerce Business entstammt und meine Mittagsrunde bereicherte.

Euch allen vielen Dank! Denn durch Euch war doch ein bisschen BarCamp in FFM!

4. Fazit

Das LawCamp ist eine Konferenz, die auf dem Konzept der BarCamps basiert.“ So steht es unter Konzept auf der LawCamp Seite. Das hätte ich wörtlich nehmen sollen. Dann hätte  ich mich mehr auf einen Juristenkongress als auf ein BarCamp eingestellt. Denn das war es.  Bzw. ich würde sogar noch weiter gehen: Das LawCamp war in erster Linie eine Mandantenveranstaltung von Bird & Bird – bezeichnenderweise wurde ich von einem Bird & Bird Anwalt  auch gefragt, wie ich überhaupt von der Veranstaltung habe erfahren können, wenn ich denn gar nicht eingeladen war…. Doch BarCamp klingt natürlich einfach hipper und die Positionierung als erster LawCamp-Veranstalter in Deutschland ist für eine Großkanzlei natürlich auch nicht schlecht. Keine Frage. Das kann man alles so machen – muss man aber vielleicht nicht.

Das LawCamp 2012 war für mich bestenfalls ein Kongress, der ein wenig lockerer versuchte daher zu kommen als üblich. Gelungen ist selbst das meines Erachtens nicht. Und das finde ich sehr, sehr schade. Ich kann mich nur wiederholen: BarCamps sind exzellente Veranstaltungen, die einen ungeheuren Mehrwert bieten (können). Und so schreibe ich hier nicht so einen langen Nachbericht, weil ich nichts zu tun habe und/oder einfach mal ein bisschen vom Leder ziehen will, sondern weil ich es wirklich einfach schade finde, dass das Format LawCamp als BarCamp eben doch nicht existiert.

An der Branche an sich kann es jedenfalls nicht liegen. Denn dass BarCamps als Format nicht nur für die „lockere“ IT-, Online- oder Social Media Branche funktionieren, hat das erste HR BarCamp dieses Jahr schlicht bewiesen. Für Personaler ist ein solches Format dem Grunde nach ebenso befremdlich wie für Juristen. Und trotzdem war das HR BarCamp in allen Punkten (Ablauf, Inhalt, Atmosphäre) schlichtweg top, alle haben mitgemacht und an dem neuen Format mitgezogen. Ich bin mir sicher, das würde auch für Juristen funktionieren. Wirklich. Vielleicht waren auch einfach zu wenig Vertreter der Social Media Jura Suppe da. Gefehlt haben hier unter anderem die Kollegen: @intertainment, @RAStadler, @radirks, @elawprof, @dramburg.

Vielleicht liegt es aber auch gar nicht am LawCamp, sondern an mir. So darf ich zwar mit Fug und Recht die Berufsbezeichnung „Rechtsanwältin“ führen (habe also laut des Kollegen Arno Lampmann, die Qualen des Jurastudiums und Referendariats erfolgreich durchlitten 😉 ) und liebe meinen Job sehr. Zugleich bezeichne ich mich jedoch als Vertreterin der Generation Y (Watch the video!) und darf wohl behaupten, ziemlich tief in der Social Media (HR) Suppe mit drin zuhängen. Ich finde „war stories“ über durchgearbeitete Nächte, Frauen, die im Kreissaal die letzte Akte noch mit dem Blackberry bearbeitet haben und Männer, die beinahe ihre eigene Hochzeit verpassten, weil der Mandant ja soooo wichtig war, einfach ziemlich dämlich. Die Folge ist, dass ich mit vielen Relevanzen, die unter den gemeinen Juristen gelten, wenig anfangen kann. Doch dazu titelte ja gerade die brand eins mit dem Schwerpunkt Relevanz. Und wie heißt es dort so schön: Entscheiden, was wichtig ist, muss jeder für sich selbst.

Ich will damit sagen, vielleicht gibt es ja in zwei Jahren ein wahres BarCamp für Juristen. Mit Kaffee und Jeans, interaktiven Sessions, regem und konstruktivem Austausch dazwischen und Bier am Abend. Doch vielleicht finde dann nur ich und vielleicht eine Handvoll andere es wertvoll. Und ein anderer schreibt einen Bericht in der NJW der gnadenlos darlegt, wie merkwürdig dieses Treiben auf einem BarCamp wirkt, das ja nun so gar nichts mehr mit dem gewohnten „Habitus eines Juristen“ zu tun hat.

In diesem Sinne,

auf ein BarCamp für Juristen 2014! (Remind me, plz.)

Die Causa „ACTA-Video“ oder: Stefan Herwig über den Protest gegen ACTA und seine Kommunikationsformen

Gestern erreichte mich eine Mail von Stefan Herwig, der mich auf seinen oben genannten Artikel hinwies und mich bat, diesen doch vielleicht in meinem Blog zu verlinken. Ich gestehe. Ich dachte im ersten Augenblick, oh man, schon wieder so ein Link-Tausch-Fraggle, der mir jetzt den super-duper Link anbieten will – vergiss es! Doch, *shameonme, so ist es gar nicht.

Stefan Herwig ist nicht nur einerseits Betreiber des independet Musiklabels „Dependent“ und andererseits Inhaber einer Agentur, Mindbase Strategic Consult, die Kreativwirtschaftsunternehmen und -verbände hinsichtlich der Auswirkung von Digitalisierung berät, nein, er ist auch Kommunikationswissenschaftler.

Aus eben dieser letzten Perspektive beleuchtet Stefan Herwig in seinem Artikel „Die Causa ACTA-Video“ den Protest gegen ACTA und seine Kommunikationsformen. Oder anders ausgedrückt: Herwig untersucht den derzeitigen Umgang mit der „Quelle“ Internet. Ich will gar nicht mehr dazu sagen. Obwohl der Artikel nicht juristisch ist,  verdient er aufgrund der aktuellen Debatten im Social Media Recht Blog einenEinleitungsartikel  und ist absolut mit einer deutlichen, ja eindringlichen, Leseempfehlung versehen:

Hier als vollständiger Artikel im pdf-Format.

Hier als verkürzte Version bei „Presseschauder“.

In diesem Sinne,

herzlichen Dank an Stefan Herwig für seine Email und den Artikel!

#ACTA, vermeintliche Schwarmintelligenz und das Geheimdokument „SJ-0501/11“

Jetzt ist es soweit. Jetzt muss ich es doch tun. Ein paar Zeilen zu #ACTA (Anti-Counterfeiting-Trade Agreement) zu verfassen. Eigentlich wollte ich mich dazu nicht äußern, da meine Erfahrung aus so einigen Diskussionsrunden ist, dass man derzeit schlicht lautstark niedergeschrien wird, wenn man sachlich diskutieren und nicht in das allgemeine „Ich bin gegen #ACTA, denn ACTA beschneidet die Bürgerrechte und lässt kleine Kinder in Afrika sterben“ einfallen möchte (Ja, das ist die Quintessenz des „aufklärenden“ Anonymous-Video!).

Doch nachdem ich gestern bei den beebops eine kleine „Beschlauung zu ACTA“ (so Sven Wiesner via Twitter) für die Mitarbeiter geben durfte, mich in Folge dessen mit der ACTA-Problematik noch einmal vertieft auseinandergesetzt habe und im Anschluss daran heute morgen gleich wieder die nächste Schlagzeile „Handelsausschuss des Europaparlamentes hält Rechtsgutachten geheim, um ACTA nicht zu gefährden.“ quer durch das Netz galoppieren sehen muss, halte ich es doch nicht aus und stelle gleich zu Anfang mal die provozierende Frage:

LIEST EIGENTLICH IRGENDJEMAND DA DRAUSSEN NOCH PRIMÄRQUELLEN?

… oder reicht es wenn irgendjemand und dann mehr und dann alle den einen gleichen Tweet, Facebook-, Google-Plus- oder sonstigen Post weiterverbreitet, bis eine Tatsache wahr wird?!

Wie ich es auch schon in meinen letzten Blogpost „Was soll eigentlich dieses Urheberrecht Teil 2“ kurz anriss, kursieren alle (un-)möglichen Vorstellungen und Schlagworte zu ACTA. „Urheberrechtsverletzungen werden mit ACTA strafbar“, „Die Meinungs- und Informationsfreiheit wird eingeschränkt„, „Mit ACTA kommen Netzsperren und die Zensur„, „ACTA untergräbt die Rechtsstaatlichkeit„, „Provider werden zu Hilfsheriffs der Medien„, „Der böse Geist von ACTA bedeutet das Ende des Internets, wie wir es kennen„. Nun, wenn das so wäre, dann gäbe es allen Grund gegen ACTA auf die Straße zu gehen und lauthals „Stoppt ACTA“ zu brüllen. Doch ist das alles überhaupt so? Nun, selbst die FAZ berichtet davon (einfach ACTA in die Suche bei der FAZ eingeben oder exemplarisch hier mal lesen). Dann wird es doch stimmen! Mhm, leider hat es nicht den Anschein als hätten sich die Redaktionen der Leitmedien in Deutschland die Zeit genommen einmal in die Primärquelle zu sehen und/oder vielleicht jemanden zu befragen, der sich damit fachlich einmal auseinandergesetzt hat – wie zum Beispiel Prof. Dr. Joachim Schrey und Dr. Thomas W. Haug, die sich schon im März 2011 mit den Auswirkungen von ACTA auf deutsches und europäisches Recht in der Fachzeitschrift Kommunikation & Recht auseinandergesetzt haben oder Prof. Dr. Dirk Heckmann, der in der LTO Stellung nimmt. Doch anstelle dessen wird lieber weiter mit „Befürchtungen“, „Ängsten“ und „Dem Geist von ACTA“ gearbeitet. Und was gestern noch die gefühlte Befürchtung einer Netzsperre war, ist heute schon unumstößlicher Fakt. Wem das Lesen des oben genannten Fachaufsatzes zu anstrengend ist, der sei gerne beispielsweise auf Jens Ferner verwiesen, der ACTA ebenfalls kühl analysiert und im Ergebnis nichts Neues erkennen kann. (Allerdings sieht auch Jens „zwischen den Zeilen“ von ACTA jedenfalls bei Art. 27 „knüppeldickes“ Potential…. das ich nicht sehe und dem ich  durchaus entgegentrete.). Gerade diese „könnte“, „vielleicht“, „wäre“ sind meines Erachtens im Zusammenhang mit ACTA vollkommen unangebracht und führen zu den sich selbst perpetuierenden „Ängsten“ und „Befürchtungen“. Auch der Rückgriff auf unbestimmte Rechtsbegriffe ist nicht per se problematisch, sondern vielmehr in der Gesetzestechnik notwendig. Gesetzestexte sind schließlich immer im Gesamtkontext zu lesen und nicht singulär! Dies meint, dass zum Beispiel Präambeln, Gesetzesbegründungen und insbesondere im Kontext von internationalen Vereinbarungen einmal ein Blick in unser Grundgesetz und das schon bestehende sonstige Recht geworfen werden muss.  Dabei wird in Bezug auf ACTA schnell klar: Eigentlich nichts Neues. Und schon gar nicht das Ende des Internets, der Bürgerrechte und der Informationsfreiheit.

Im Einzelnen will ich das hier nun gar nicht noch einmal „aufdröseln“, doch wem obige Hinweise auf trockene fachliche Auseinandersetzungen eben zu trocken sind, der mag sich vielleicht die Präsentation zu ACTA des gestrigen Abends bei beebop ansehen, in der die „Mythen“ einmal neben die Fakten gestellt werden. Den O-Ton gibt es natürlich nicht mehr dazu, von daher bitte ich zu berücksichtigen, dass die Präsentation selbst die Thematik jeweils nur stark verkürzt und vor allem kein Lehrbuch zur Implementierung von internationalen Verträgen und zu ACTA darstellt.

Spannend war gestern dann vor allem noch die Diskussion um die Frage „Aber wieso hat ACTA denn so einen Ruf? Es muss doch etwas dran sein, wenn alle das sagen…?“ Tja, warum ACTA so einen Ruf hat, kann ich nicht wirklich beantworten. Prof. Dr. Dirk Heckmann versucht sich in der Legal Tribune Online (LTO) mit einer – wie ich finde jedoch sehr gelungenen – Erklärung. In seinem Artikel „Aufstand der Unverstandenen„, spricht er von „einer neuen netztypischen Protestkultur„. Dabei ermöglicht „das Internet eine direkte Reaktion auf Ereignisse, ungefiltert etwa durch klassische Medien und deren Redaktionen, und ebenso eine direkte Kommunikation der Betroffenen, jenseits ihrer demokratischen Repräsentanten. Diese schnelle und direkte Information und Kommunikation durch „jedermann“ trägt auch dazu bei, dass sich Ungenauigkeiten, Irrtümer oder überholte Fakten verbreiten, zumal die rasante Informationsverarbeitung und -verbreitung nicht gerade „synchron“ und abgestimmt verläuft.“

Dazu kommt, dass auch einige Juristen wie Prof. Dr. Dirk Heckmann meinen, dass  ACTA aus rechtspolitischen bzw. kommunikativen Gründen so nicht in Kraft treten sollte. Daraus wird jedoch wiederum im Sinne der ACTA-Gegner und im Sinne der obigen Ausführungen schnell gedreht, dass es ja Juristen gibt, die „die gleichen Gefahren bei ACTA“ sehen würden – und überlesen, dass zunächst eindeutig statuiert wurde, dass ACTA juristisch nichts Neues mit sich bringt.

Und damit sind wir dann auch bei meinem Aufreger von heute morgen angekommen, dem Dokument „SJ-0501/11“ zu dem es überall heißt „Handelsausschuss des Europaparlamentes hält Rechtsgutachten geheim, um ACTA nicht zu gefährden“. (einfach „SJ-0501/11“ bei Google eingeben). In den Artikeln wird dann kolportiert, dass das EU-Parlament das Dokument geheimhalte, weil der Inhalt dieses Dokuments schließlich darauf hinweise, dass ACTA doch nicht so ganz rechtmäßig ist. Oops, dachte ich zunächst. Vielmehr *Schluck! Habe ich etwa irgendetwas Entscheidendes bei der ACTA-Lektüre übersehen und gestern Abend den totalen Quatsch erzählt? Doch ein bisschen weitere Recherche ergaben schnell Entwarnung. Die „Quelle“ stellt der Blogartikel von André Rebenkamptisch (Entschuldigung!) „Offenlegung von Rechtsgutachten würde ACTA Ratifizierung kompromittieren“ dar. Der Blogger bemühte sich, Einsicht in das Dokument mit Schreiben vom 12.02.2012 an das europäische Parlament zu gelangen. Darauf hin bekam er Post vom EU-Parlament am 20.02.2012 mit dem Hinweis, das Dokument könne keinesfalls ausgehändigt werden. Das Ganze ist verschwurbelt auf 5 Seiten verargumentiert. Aus dem Schreiben ergibt sich tatsächlich, dass das EU-Parlament das Dokument SJ 0501/11 nicht herausgeben wolle, da die Auslegung durch den juristischen Dienst den „ordnungsgemäßen Ablauf des Ratifizierungsverfahrens beeinträchtigten“ und sich dies „negativ auf die Ratifizierung durch die Länder auswirken“ könne.  Der Kommentierung von André Rebenkamp hinsichtlich der „Zurückhaltung“ konkret dieses Dokuments ist nichts hinzuzufügen.

Doch was war denn eigentlich? Zunächst einmal IST das Dokument „SJ-0501/11“ schon lange überall im Netz frei verfügbar. Denn das Dokument wurde zunächst veröffentlicht und erst dann wieder zurückgezogen (keiner weiß wirklich warum, dazu unten mehr). Das erkannte auch der Rebenkamp  selbst sehr schnell und stellte das in seinem Blogpost auch gerade. Doch davon ist natürlich nirgendwo die Rede. Es bleibt in der öffentlichen Meinung dabei, der „Handelsausschuss hält das Dokument zurück, um ACTA nicht zu gefährden„. Doch auch dies ist inhaltlich ist dies ebenso verkürzt wie inhaltlich im Zusammenhang mit diesem Dokument unsinnig:

In dem Rechtsgutachten werden drei rechtliche Fragen zu der Rechtmäßigkeit des Handelsabkommens selbst sowie die Frage gestellt, ob es eine allgemeine Pflicht zur Veröffentlichungen von Dokumenten aus dem Gesetzgebungsverfahren (im weitesten Sinne) gibt. Die ersten drei Fragen werden letztlich beantwortet mit: „Im Ergebnis alles gut.“ Hinsichtlich der letzteren Frage wird festgestellt, dass es keine Verpflichtung gäbe und im Einzelfall gute Gründe dagegen sprechen können, Dokumente aus dem Gesetzgebungsverfahren zu   veröffentlichen, da  eine frühzeitige Veröffentlichung das Vertrauen in den Verhandlungsprozess und die Konsensfindung zwischen den Staaten untergraben könnte, eben dieses jedoch immanent wichtig für solche Verhandlungen sein kann. Was soll ich sagen? Dem ist doch nichts hinzuzufügen – es wäre wirklich kontraproduktiv, wenn jedes vorbereitende Dokument immer sofort zur Verfügung stünden und stets Inhalte in der breiten Öffentlichkeit sofort massiv durchgegangen würden, selbst wenn diese vielleicht ohnehin nur diskutiert aber niemals Eingang in einen tatsächlichen Entwurf gefunden hätten…. Wirklich unsinnig von Seiten des EU-Parlaments war meines Erachtens nur, dieses Dokument (vorübergehend) nicht der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, denn da steht nun wirklicht nichts drin, was die Öffentlichkeit und/oder einzelne Staaten „anheizen“ könnte, eine Ratifizierung nicht vorzunehmen. (Der Aufreger ist da vielmehr das Schreiben vom EU-Parlament an Rebenkamp selbst.)

Oder? Denn hier sind wir beim eigentlich aktuellen Kernproblem. Ob #ACTA, #SJ-0501/11, #Gauck oder #E10 (das Beispiel ist von Sven geklaut), kaum schreit derzeit einer „Aufruhr“, schreien alle hinterher. Als „Belege“ werden fleißig Zitate aus dem Kontext gerissen und in völlig anderem wiedergegeben (dazu sehr schön: „Gauck und die Stille Post im Netz“ von @saschalobo). Dreimal umgerührt und fertig ist die beweiskräftige Suppe. Anders ausgedrückt: Ich bekomme erhebliche Zweifel an der Existenz der viel beschworenen Schwarmintelligenz.

Und das finde ich doof.  Deswegen schließe ich einfach nun mit den Worten von Prof. Dr. Heckmann:

Mit der neuen Machtposition, die dieser „netzpolitischen Avantgarde“ zukommt, korrespondiert allerdings auch eine neue und gesteigerte Verantwortung für einen geordneten öffentlichen Diskurs. […] Neben dem Staat sind auch sie ein ganz wesentlicher Faktor dafür, ob und inwieweit der Dialog miteinander oder gegeneinander verläuft.

In diesem Sinne,

auf künftig mehr sachliche, konstruktive und weniger aufgeregte Diskussionen und Debatten im Netz – gleich zu welchem Thema.

PS: Ich warte. Er wird kommen.